Narzißland
Die infantile Gesellschaft und das Ende der Wirklichkeit
Ein Essay über Reife, Regression und den Zerfall des Gemeinsamen
„Narzisland“ ist kein ferner Ort, keine düstere Dystopie. Es ist der Zustand, in dem wir leben – eine Gegenwart, in der das Ich zur Marke geworden ist, Aufmerksamkeit zur Währung, und Reife zur Provokation. Dieses Essay ist kein Abgesang auf die Demokratie, sondern ein Protokoll ihres Verschwindens hinter der glänzenden Fassade medialer Selbstinszenierung. Es ist der Versuch, einen Blick zu werfen hinter die Filter – auf eine Gesellschaft, die alles zeigt, aber nichts erkennt.
In den Vereinigten Staaten – und zunehmend darüber hinaus – geht es längst nicht mehr um politische Programme oder Mehrheiten. Was sich vollzieht, ist eine tektonische Verschiebung: nicht nur der Machtverhältnisse, sondern des gesamten kulturellen Selbstverständnisses. Die politische Krise ist zur kulturellen geworden, die kulturelle zur psychologischen. Die Gesellschaft weigert sich, erwachsen zu werden.
Was wir beobachten, ist kein Streit zwischen Ideologien. Es ist ein Konflikt zwischen Reife und Regression. Zwischen Verantwortung und Selbstinszenierung. Politik mutiert zur Bühne für gekränkte Egos, öffentliche Debatten werden zum Kindertheater aus Trotz, Lärm und emotionaler Kurzschlusslogik.
Die amerikanische Gesellschaft wirkt wie ein Kind, das laut schreien muss, um sich selbst nicht hören zu müssen.
Triumph als Erlösung
Zusammenhalt entsteht nicht mehr aus gemeinsamen Werten oder Wahrheiten, sondern aus der kollektiven Jagd nach dem „großen Moment“ – dem allesentscheidenden Sieg, dem einen Deal, der alle Widersprüche auslöscht. Donald Trump verkörpert diese Sehnsucht nicht nur – er lebt sie. Er ist kein Politiker, sondern die Personifikation einer Fantasie: Alles gewinnen, nichts erklären.
In seinem Schatten: die ewige Verheißung der Tasche voller Geld. Kein Ziel, sondern ein Ersatz. Für ein Selbst, das sich nur in seiner Spiegelung erkennt – und darin seine eigene Leere kaschiert.
Das Ich als Show
Inszenierung ist zur Grundfunktion des Ichs geworden. Sichtbarkeit ersetzt Substanz. Jeder spricht, postet, kommentiert – nicht aus Überzeugung, sondern aus Bedürftigkeit. Likes sind das neue Lebenszeichen.
Das Ich braucht Reaktion, um zu existieren.
Wer nicht gesehen wird, ist nicht.
Wer widerspricht, stört.
Wer differenziert, verliert.
Musk, Trump & Co: Die Profis der Regression
Elon Musk spielt den genialen Kindkönig: ungreifbar, ironisch, überhöht. Mal Retter, mal Troll, stets auf Sendung. Der naive Ton ist Kalkül, die Überforderung Strategie. Die Regression wird zur Lizenz zur Machtausweitung.
Trump dagegen glaubt, was er spielt: ein König, dem jedes Hindernis nur seine Größe beweist. Eine narzisstische Logik, die Macht als Spiegel nutzt.
Finale statt Prozess
Was beide eint, ist ihr Denken in Endpunkten. Kein Werden, kein Wandel, kein Zweifel. Nur Entscheidung. Nur Sieg oder Niederlage.
Das Zyklische, das Prozesshafte, hat darin keinen Platz. Es zählt nicht das Wachsen, sondern das Gewinnen. Nicht das Lernen, sondern das Rechthaben.
Das ist die wahre Infantilisierung: nicht kindisches Verhalten – sondern die Weigerung, Reife als Weg zu begreifen.
Die verdrängte Geschichte
Amerikas kollektives Selbstbild ist gebaut auf Ausblendung: Sklaverei, Rassismus, Gewalt – nie vollständig durchlebt, sondern überschrieben mit Mythos, Pioniergeist und Konsum. Stärke ersetzt Verarbeitung, Dominanz verdrängt Erinnerung.
Doch die Vergangenheit bleibt. Und kehrt zurück – als Unfähigkeit, Gegenwart zu gestalten.
Demokratie als Dekor
Was heute sichtbar wird, ist kein plötzlicher Zusammenbruch, sondern ein langsames Entgleiten. Vertrauen in Institutionen schwindet, Gewaltenteilung wird als Behinderung empfunden. Demokratie wird zur Kulisse einer Aufmerksamkeitsökonomie. Wer denkt, verliert. Wer zweifelt, schweigt. Wer schreit, gewinnt.
Hollywood liefert die Dramaturgie: Gewalt als Pose, Reue als Schwäche, Differenz als Bruch. Realität wird nicht abgebildet – sondern inszeniert.
Die Kultur des Auslöschens
Was nicht passt, wird getilgt. Nicht bearbeitet – gelöscht. Nicht integriert – ignoriert. Nicht verhandelt – ersetzt.
Zeit selbst wird zum Störfaktor. Kein Raum für Langsamkeit, für Rückschritt, für Wiederholung. Nur der eine Moment zählt. Nur das Finale.
Was fehlt, ist das Zyklische
Reife bedeutet, Übergänge zu akzeptieren. Kreisläufe. Irrtümer. Neubeginn. Doch in einer Kultur, die nur das Endgültige anerkennt, stirbt nicht nur das Bewusstsein – sondern das Gespür für Wirklichkeit selbst.
Was bleibt?
Vielleicht beginnt hier etwas Neues. Kein glorreiches Erwachen, kein schneller Wandel. Sondern die langsame Rückkehr eines Denkens, das sich weigert, nur zu siegen.
Eine Generation, die den Zwischenraum ernst nimmt.
Die Würde sucht statt Wirkung.
Verbindung statt Bühne.
Zyklus statt Finale.
Reife beginnt dort, wo das Selbst aufhört, sich zu spiegeln – und beginnt, wirklich zu sehen.
´Joerg Alexander / Havana / 22.03.25