
‚Unknown‘
In meinem Blick auf die Fotografie schwingt die tiefe Sehnsucht nach einer Art ursprünglichem, unschuldigen Sehen mit. So, wie ein Kind voller Staunen in die Welt schaut, ohne vorgefasste Muster oder Absichten. Diese Unvoreingenommenheit – die reine Begeisterung für das, was sich im Moment zeigt – kann eine gewaltige Kraftquelle sein. Denn sie nährt sich aus Neugier und Demut zugleich: Einerseits staunst Du über alles, was Dir begegnet, andererseits versuchst Du, Dich dem Wesen eines Motivs still und respektvoll zu nähern.
Doch in Deiner Beobachtung rückt zugleich das Scheitern in den Vordergrund: Die Komplexität mancher Inszenierung lässt sich nicht einfach in eine reine, unverfälschte Sicht pressen. Aufträge, Kund*innen, Erwartungen und Inszenierungen bringen fortwährend Kompromisse mit sich, bisweilen auch künstlerische Einbußen. Dies wird umso deutlicher in einer Zeit, in der Bilder im Überfluss entstehen. Die Digitalisierung spült Sekundenbruchteile später tausendfach ähnliche Motive in soziale Netzwerke oder Werbekanäle. Ein Festhalten an jener unberührten, fast kindlich-spielerischen Betrachtungsweise erscheint da wie ein Ringen gegen eine unaufhaltsame Flut.
Die Magie der ursprünglichen Wahrnehmung
Jene „kindliche Unschuld“ ist aus philosophischer Sicht ein Aufruf, sich auf das Wesentliche zu besinnen. In der Phänomenologie spricht man davon, die Welt „so wie sie erscheint“ anzuschauen – ohne vorschnelle Deutung. Das Kindliche ist darin keine Naivität, sondern ein radikales Offen-Sein. Diese Haltung widersetzt sich jedoch dem Lärm der unzähligen Fotografien, die täglich generiert und konsumiert werden. Wo alles in Überschwang existiert, droht das Einzelne seine Tiefe zu verlieren. Das ist die Tragik, die Du beobachtest: Wenn ein Bild nur noch ein Post im digitalen Strom wird, schwindet seine Aura.
Die Entwertung durch das Überangebot
Walter Benjamin schrieb einst, dass die Reproduzierbarkeit eines Kunstwerks dessen Aura verändere. Mit der Digitalisierung hat sich das noch einmal potenziert: Ein Foto ist binnen Sekunden millionenfach dupliziert und verteilt. Diese schiere Masse hebt die Kostbarkeit auf. Ein Bild verliert seine Einmaligkeit, sobald es in jeder Timeline, in jedem Feed sichtbar ist – es wird zur austauschbaren „Posse“, wie Du sagst. Magie setzt hingegen Auseinandersetzung, Stille und Zeit voraus. Ist uns aber in dieser schnelllebigen Gegenwart noch möglich, Raum für Stille und echte Begegnung mit dem Bild zu finden?
Das Unschuldige im Grausamen
Trotz allem betonst Du, dass Du Dir selbst in dunklen, hässlichen oder schmerzhaften Motiven eine gewisse Reinheit des Blicks bewahren konntest. Das ist eine paradoxe und zugleich berührende Haltung: Als Kind sieht man auch das Schreckliche, empfindet es, bleibt jedoch frei von Zynismus. Man schaut einfach hin – und gerade diese Offenheit, dieses Lautlose Staunen, kann eine unbändige Kraft entfalten. Vielleicht ist diese Haltung nicht von vornherein verloren. In jedem Menschen gibt es ein Potential, erneut staunen zu lernen, selbst im digitalen Zeitalter. Es erfordert nur eine beharrliche Entscheidung, sich nicht im Rauschen zu verlieren, sondern immer wieder das Wesentliche zu suchen.
Wo liegt die Zukunft der Magie?
Die Frage ist, ob der digitale Wandel die Magie *endgültig* entzaubert hat oder ob wir lernen müssen, auf neue Weise wieder Wunder zu erfahren. Große Kunst kann selbst im Zeitalter permanenter Bildflut entstehen, weil sie uns eben noch einmal anders anrührt – tiefer, unmittelbarer, entlarvender. Die technischen Möglichkeiten der Nachbearbeitung und Verbreitung können dabei Fluch und Segen zugleich sein. Oft entzaubern sie, manchmal offenbaren sie aber auch eine neue Dimension des Sehens.
Vielleicht liegt die neue Herausforderung darin, dem schnellen Konsum zu widerstehen. Inmitten der allgegenwärtigen Bildflut könnte es gerade die kindliche Entdeckungslust sein, die einen fotografischen Prozess anstößt, der auf Echtheit und Berührung abzielt. Der Versuch, wirklich hinzusehen und nicht nur „durchzuklicken“, kann eine Art geistiger Übung werden – eine Form von fotografischer Meditation, die einer Art „Innehalten“ entspricht.
Ein Plädoyer für den fortdauernden Blick
So bleibt Deine Kraft – jene Haltung der unbefangenen Wahrnehmung – hochaktuell und essenziell. Gerade weil das Medium sich in tausend Verzweigungen verliert, könnte die schlichte, ehrliche Hingabe an den Moment die letzte Bastion des Magischen sein. Sie ist nicht garantiert, nicht einfach, nicht marktgerecht. Doch womöglich ist es dieser fortdauernde, stille Blick, der uns die lebendige Seele eines Motivs noch spüren lässt, selbst wenn ringsum alles zum beliebigen Content verkümmert.
Das Kind in Dir kann uns also lehren, unter all den Bildern wieder ein *wahres* Sehen zu entdecken. Wenn wir uns in einen Zustand versetzen, der nicht besitzen oder manipulieren, sondern schlicht schauen will, bewahren wir den Keim jener Unschuld. Ein Blick, der auch das „Grässliche“ aushält, weil er nicht urteilt, sondern versteht. Das ist vielleicht – trotz aller Digitalisierung – die bleibende Magie der Fotografie: Nicht die perfekte Oberfläche, sondern die Wahrhaftigkeit, die in einem Augenblick des ungeschönten Staunens spürbar wird.